Artikel im Reutlinger General-Anzeiger vom 21.10.2020
REUTLINGEN. »Sehr informativ.« »Fruchtbarer Informationsaustausch.« »Das habe ich so gar nicht gewusst.« »Wir werden uns für die Benachteiligten einsetzen.« So und so ähnlich lauteten Fazits der Reutlinger (und Zwiefalter) Kommunalpolitiker zu Beschreibungen von Fachfrauen aus der täglichen sozialen Arbeit – und das auch jetzt gerade während der Pandemie. Petra Braun-Seiz (Linke) aus dem Kreistag, Susanne Häcker (Grüne), Paul Rasch (WiR) und Erich Fritz (FWV) – alle drei aus dem Reutlinger Gemeinderat – sowie Klaus Käppeler (SPD) als Kandidat für die kommende Landtagswahl und Gemeinderat in Zwiefalten waren in die Reutlinger Citykirche gekommen, um sich die Ausführungen der Fachfrauen anzuhören.
»Wir werden eine weitere Veranstaltung nachholen«
»Heute soll ein Prozess der Verständigung stattfinden«, sagte Andreas Gschwind, der als neuer Regionalgeschäftsstellenleiter des Paritätischen für die Region Reutlingen, Tübingen, Zollernalb zuständig ist. Das unterstrich auch Dr. Wolfgang Grulke als Leiter des Paritätischen in Reutlingen: »Wir wollen heute Abend hier keinen heftigen Streit ausfechten.« Es gehe darum, dass soziale Einrichtungen bei der Politik auf offene Ohren treffe und Verständnis geweckt werde. »Wir arbeiten an der sozialen Front«, betonte Grulke. Eigentlich hätten sich sieben Einrichtungen vorstellen sollen, gekommen waren wegen Corona nur zwei. »Wir werden eine weitere Veranstaltung mit den verhinderten Einrichtungen nachholen«, versprach Grulke.
Fünf Fragen waren vorab an die beiden Einrichtungen von Pro Juventa und den Tagesmütterverein gestellt worden. Fünf Fragen, in denen es um die tägliche Arbeit ging. Und um die besonderen Situationen durch Corona. Gundula Neuscheler etwa berichtete als Diplom-Pädagogin aus dem Bereich der Familienhilfe – mit sehr viel Herzblut und ausführlich. Sie arbeitet bei Pro Juventa, ihre Aufträge in der Familienhilfe erhält sie aber über das Jugendamt. Und wenn sie im Auftrag des Jugendamts kommt, dann würden die meisten Familien zunächst mal abwehrend reagieren, denn: »Es gibt immer noch bei vielen das Vorurteil, das Jugendamt nimmt die Kinder weg«, so Neuscheler. »Aber nur wenige nehmen die Hilfe ungern an.« Die meisten seien sich nämlich bewusst, dass sie Probleme haben. Welcher Art die Probleme sind? Vielfältig, so Neuscheler. Es gehe oft um Erziehungsschwierigkeiten, um psychische, Sucht- oder auch Geldprobleme, um Arbeitslosigkeit und noch viel mehr.
Während der vergangenen sechs Monate hätten gerade diese Menschen noch viel mehr leiden müssen als sonst, »das war lange nicht Thema in der Öffentlichkeit, aber Menschen mit beengtem Wohnraum waren besonders von dem Lockdown betroffen«, so die Diplom-Pädagogin. Schließlich hätten sie kaum ausweichen und kein »Bespaßungsprogramm« für die Kinder liefern können. Dazu waren fast alle öffentlichen Angebote für Kinder und Jugendliche auch noch geschlossen. »Jetzt nach sechs Monaten haben wir mit viel mehr Auffälligkeiten gerade bei den eh schon benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu tun.« Und es werden wohl noch mehr werden, so Neuscheler.
»Die jungen Menschen leben derzeit in sozialer Isolation«
Ihre Kollegin Tamila Burgardt hat in ihrer Arbeit (ebenfalls bei Pro Juventa) mit unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen zu tun. Auch diese Gruppe leide unter Corona-Bedingungen extrem, denn: Ganz allein auf sich gestellt »sind ihnen alle stabilisierenden Säulen weggebrochen«, so Burgardt. »Die jungen Menschen leben zurzeit in sozialer Isolation.« Viele hätten ihre Arbeit verloren »und wenn sie 21 Jahre alt sind, ist die Jugendhilfe nicht mehr zuständig, das heißt, sie sind völlig auf sich selbst gestellt«. Und hätten dann womöglich von einem Tag auf den anderen keinen Wohnraum mehr – genau das gleiche Problem plagen auch die Menschen, die Familienhilfe erhalten, sagte Neuscheler.
Tülây Schmid berichtete am Freitagabend als Nachfolgerin von Anne Mack als Geschäftsführerin des Reutlinger Tagesmüttervereins über die Verunsicherungen von vielen Tagesmüttern in den Coronazeiten. Was sie aber am meisten beschäftige: Die Finanzierung der Tiger (Tagesbetreuung in anderen geeigneten Räumlichkeiten) sei in der Stadt Reutlingen infrage gestellt – mit dem Verweis auf die Corona-Selbsthilfe für Selbstständige. Das funktioniere aber nicht, sagte Schmid zu den Kommunalpolitikern. »Viele Tiger-Betreiberinnen überlegen sich, ob sie überhaupt weitermachen können.« Die Tiger seien aus der Stadt und dem Landkreis nicht mehr wegzudenken, versicherten fast alle anwesenden Politikerinnen und Politiker. Paul Rasch riet Tülây Schmid: »Kämpfen Sie weiter, seien Sie der Stachel im Fleisch der Politik.« (GEA)